Psychotherapeut: Bauchgefühl alleine kein guter Ratgeber.
Klugheit, Tapferkeit, Maßhalten und Gerechtigkeit: Die Psychologie entdeckt die antiken Tugenden wieder als mobilisierbare Stärken. Zum Thema macht dies im Mai die Fachtagung „Charakter und Charisma“ http://www.rpp2012.org an der Uni Wien. „Man schätzt, dass Gene und Umwelt menschliches Verhalten zu je 40 Prozent vorherbestimmen. Die restlichen 20 Prozent sind freier Wille – den man durch Störungen verlieren, durch Tugenden aber stärken kann“, erklärt Tagungsleiter Raphael Bonelli im Interview.
Gene und Umwelt liefern Basis
Die Frage „Warum bin ich so, wie ich bin?“ berührt drei Aspekte, legt der Wiener Psychiater und Psychotherapeut dar. Gewichtige Mitsprache haben die Gene, die Reaktionsmuster auf Reize – die Temperamente – vorherbestimmen. „So wie man auf die Welt kommt, stirbt man auch. Einmal Choleriker, immer Choleriker“, betont Bonelli. Die weiteren Idealtypen sind der Melancholiker, Sanguiniker und Phlegmatiker, wobei die meisten Menschen jedoch Mischformen sind.
Weniger eindeutig feststellbar als die biologische Bestimmtheit ist die vielschichtige Prägung durch die Umwelt wie etwa Familie, Erziehung, Peers, Sprache, Religion und Kultur. Diese Faktoren und das Temperament gemeinsam bilden die Ebene der Persönlichkeit, auf der viele der Störungen – etwa in Folge unverarbeiteter schlimmer Erlebnisse – angesiedelt sind.
Wettstreit im Bett
Doch auch der Charakter als dritte Ebene entscheidet über das menschliche Verhalten. „Nach Immanuel Kant formt man den Charakter, indem man den Willen nicht allein nach spontanen Gefühlen, Trieben, Interessen und Neigungen, sondern auch nach der Vernunft ausrichtet.“ Bonelli vergleicht mit den Sinnbildern Bauch, Kopf und Herz. „Das Herz als Wille entscheidet, wem es folgt. Ideal ist, wenn es mit Bauch und Kopf übereinstimmt.“
Oft im Leben fehlt diese Harmonie allerdings, „zum Beispiel, wenn am Morgen der Bauch ‚Weiterschlafen!‘ und der Kopf ‚Aufstehen!‘ sagt“, veranschaulicht der Experte. Zwar sei der Weg der Vernunft häufig mühsam und ihre Stimme leise, doch könne man durch Training sogar die Gefühle danach ausrichten. „Kann sich der Wille auch gegen spontane Regungen entscheiden, nimmt seine Freiheit zu. Wird so das gewissensmäßig Gute eingeübt, entstehen daraus die Tugenden, die dem Leben Leichtigkeit und Freude verleihen.“
Weg zum Glück
Dieses Menschenbild erfährt seit der Jahrtausendwende durch die sogenannte „positive Psychologie“ enormen Auftrieb. Lange hat sich die Therapie auf Defekte konzentriert und dabei verabsäumt, nach Stärken zu fragen. Als solche bezeichnet jedoch der US-Psychologe Martin Seligman im Bestseller „Der Glücksfaktor“ die Tugenden. „Seligman rät, diese Stärken auszubauen, um glücklich zu werden. Welche Stärken hier besonders in Frage kommen, muss jeder selbst erkennen. Etwa für Choleriker ist oft das Maßhalten ein Thema, für Sanguiniker eher das Überwinden von Oberflächlichkeit“, sagt Bonelli.
Zu kurz greife hingegen der weit verbreitete Ansatz, bei Entscheidungen im Leben immer zuerst „den Bauch zu befragen“. Das Bauchgefühl sei kein Orakel, sondern ambivalent und könne sich auch zerstörerisch auswirken – erst recht wenn Emotionen wie Neid, Angst oder Hass im Spiel sind, erklärt der Experte.
pte
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