Europatag am 9. Mai im Europäischen Parlament

Festtag für europäische Geschichte

Erklärung des Präsidenten des Europäischen Parlaments und der Fraktionsvorsitzenden zum Jahrestag der Schuman-Erklärung am 9. Mai.

Die Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Schuman-Erklärung finden zu einem Zeitpunkt statt, an dem Europa vor seiner schwierigsten Herausforderung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs steht: einer gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Krise, die durch den Ausbruch von COVID‑19 ausgelöst wurde.

Grundstein für Europäische Union

Mit der Schuman-Erklärung, die den Grundstein unserer Europäischen Union legte, wurde ein einzigartiges und authentisches politisches Projekt in Angriff genommen, mit dem Frieden und Wohlstand gesichert und die Lebensbedingungen aller Bürger Europas verbessert werden sollten. Bereits vor 70 Jahren kam in der Schuman-Erklärung der Gedanke zum Ausdruck, dass sich „Europa […] nicht mit einem Schlage herstellen [lässt] und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung. Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen.“ Dieser schrittweise Ansatz führte zur Europäischen Union, wie wir sie heute kennen.

Von Anfang an ging es bei dem europäischen Aufbauwerk darum, eine politische und wirtschaftliche Gemeinschaft aufzubauen, die auf den Werten beruht, die sich aus unserer gemeinsamen europäischen Geschichte ergeben: Dazu gehören Solidarität, Offenheit, Freiheit, Toleranz, Gleichheit in der Vielfalt und Achtung der Rechtsstaatlichkeit.

Jean Monnet, der Urheber der Schuman-Erklärung, sagte, dass die Menschen den Wandel nur akzeptieren, wenn sie vor der Notwendigkeit stehen, und die Notwendigkeit nur anerkennen, wenn sie sich in einer Krise befinden. Jede Krise bietet auch die Möglichkeit, einen Schritt nach vorne zu machen. Und die derzeitige Krise verschärft die Dringlichkeit, dass die Europäische Union darauf hinarbeitet, effektiver, demokratischer und bürgernäher zu werden.

Das europäische Aufbauwerk ist noch nicht vollendet

Im Laufe der vergangenen 70 Jahre hat sich die Welt dramatisch verändert, und die Europäische Union spielt eine entscheidendere Rolle denn je. In einer sich herausbildenden neuen geopolitischen Ordnung und im Kontext eines ökologischen Notstands stehen wir in der Verantwortung, eine globale Kraft zu werden, die für Stabilität und Frieden, Rechtsstaatlichkeit, Nachhaltigkeit und Multilateralismus eintritt.

Diese Krise hat auf äußerst schmerzliche Weise Folgendes gezeigt: Das europäische Aufbauwerk ist noch nicht vollendet, und die Debatten über das Unvermögen, Solidarität zu organisieren oder den anhaltenden Angriffen auf Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit entgegenzutreten, sind keinesfalls nur theoretischer Natur.

Wir stehen auf den Schultern von Riesen

Daher sollte die Fähigkeit der europäischen Organe und aller Mitgliedstaaten, auf die aktuellen gesundheitlichen, sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen, sicherheitspolitischen und institutionellen Herausforderungen zu reagieren, zumindest dem in der Schuman-Erklärung zum Ausdruck gebrachten politischen Ehrgeiz gerecht werden. Wir müssen die demokratische Legitimität der Europäischen Union stärken und vertiefen und dabei sicherstellen, dass ihre Politik und ihre Führungsrolle Ausdruck des Willens der Bürger Europas sind und einer vollwertigen europäischen parlamentarischen Demokratie entspringen.

Wir sind überzeugt, dass es an der Zeit ist, gemeinsam mit den Unionsbürgern und allen Akteuren eine ehrgeizige Debatte über die Zukunft Europas zu führen, damit wir gemeinsam die Union gestalten, in der wir leben wollen, und unter den Unionsbürgern einen Konsens darüber finden, was die politischen Grundlagen sein sollen, auf die sich der Aufschwung auf dem europäischen Kontinent stützen kann. Solidarität ist zur wichtigsten Bedingung für unseren zukünftigen gemeinsamen Erfolg geworden.

Forum für die Zukunft Europas

In diesem Zusammenhang sind wir nach wie vor der Auffassung, dass das geplante europaweite Projekt der „Konferenz über die Zukunft Europas“ das geeignete Forum ist, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Die Konferenz muss so bald wie möglich einberufen werden. Und sie muss im Zuge einer unmittelbaren und sinnvollen Zusammenarbeit mit den Bürgern zu klaren Vorschlägen führen, mit denen eine tiefgreifende Reform der Union herbeigeführt und sie vor allem in die Lage versetzt wird, Entscheidungen im gemeinsamen europäischen Interesse zu treffen, was die EU effizienter, geeinter, demokratischer, souveräner und widerstandsfähiger machen wird.

Wir bekräftigen die Haltung des Parlaments und nehmen den Standpunkt der Kommission zur Kenntnis, wonach der Ablauf der Konferenz, ihr Konzept, ihre Struktur, ihr Zeitplan und ihr Umfang von den drei Organen gemeinsam vereinbart werden sollten. Daher fordern wir den Rat auf, einen ehrgeizigen Standpunkt zur Konferenz vorzulegen.

Neben der Begeisterung und Dankbarkeit dafür, dass wir seit 75 Jahren friedlich vereint sind, dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass die Solidarität nicht an unseren Grenzen endet. Die derzeit grassierende Pandemie ruft uns die Bedeutung des Multilateralismus ins Gedächtnis, wenn es gilt, gemeinsame Herausforderungen und Krisen auch gemeinsam zu bewältigen. Statt in nationalen Egoismus zurückzufallen, sollte es vielmehr eine gestärkte und stärker integrierte Europäische Union sein, die in enger Zusammenarbeit mit internationalen Partnern im Geiste gegenseitiger Fairness und Verständigung den Weg in die Zukunft weist.

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