Neue Herausforderungen für die soziale Absicherung
Die Armutsfalle schnappt auch in Österreich immer öfter zu. Ursache dafür ist die Wirtschaftsflaute, die auch zur Folge hat, dass eine wachsende Anzahl von Personen etwa wegen fehlender Qualifikationen in der Einkommensentwicklung zurückfällt. Die Betroffenen sind dann nicht nur kurzfristig, sondern auch mittel- bis langfristig mit wirtschaftlichen Problemen konfrontiert. Denn geringe Einkommen bedeuten niedrige Sozialleistungsbezüge und eine schwache soziale Absicherung.
„Die Sozialversicherung, die mit ihren drei Bereichen Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung mit einem Volumen von 56 Mrd. Euro die wichtigste Säule im Netz der sozialen Sicherheit Österreichs ist, stellt die wachsende Ungleichheit in der Einkommensverteilung in der Zukunft vor neue Herausforderungen. Diese gilt es rechtzeitig, abseits des Tagesgeschäftes gemeinsam mit Expertinnen und Experten zu diskutieren und über Lösungen nachzudenken“, so Dr. Josef Probst, Generaldirektor Hauptverband der Sozialversicherungsträger.
„Da sich der Hauptverband nicht nur als Verwalter sondern vor allem auch als Mitgestalter des heimischen Sozialsystems versteht, haben wir die heute stattfindende 9. Sozialstaatsenquete diesem Thema gewidmet, das uns immer intensiver beschäftigen wird“, betont der Generaldirektor des Hauptverbandes.
WIFO-Chef Aiginger für eine neue „investive Sozialpolitik“
„Verteilungsprobleme werden auch in Europa immer wichtiger“, betont der Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO), Prof. Dr. Karl Aiginger. Es sinke zwar die absolute Armut, aber nicht immer die Einkommensunterschiede. „Die Finanzkrise, Globalisierung, Budgetkonsolidierung führen zu einer tendenziellen Erweiterung der Einkommensdifferenzen, der durch eine neue ‚investive Sozialpolitik‘ begegnet werden muss. Ihr Schwerpunkt liegt in der Bildungspolitik inkl. vorschulischer Erziehung“, so Aiginger.
Der Erfolg des europäischen Modells könne nur zum Teil an der Dynamik der Einkommen gemessen werden. Für reichere Länder werden Beschäftigungschancen, Einkommensverteilung, Zugang zu Gesundheit und Pflege sowie ökologische Nachhaltigkeit immer wichtiger. Ein System von Wohlfahrtsindikatoren löse daher immer mehr die traditionelle Erfolgsmessung am Brutto-Inlandsprodukt ab, konstatiert der WIFO-Leiter.
BM Hundstorfer: Sozialer Zusammenhalt ist kein zufälliger Zustand oder Glücksfall
„Sozialer Zusammenhalt ist vor allem auch Ergebnis sozial- und wirtschaftspolitischer Entscheidungen“, so Bundesminister Rudolf Hundstorfer anlässlich der 9. Sozialstaatsenquete. „Wir brauchen Vollzeitarbeitsplätze, von denen die Menschen auch leben können. Die Arbeitszeit muss gerechter verteilt werden, samt Reduzierung von Überstunden. Vollzeit-Arbeitsplätze dürfen nicht durch ungewollte Teilzeitbeschäftigung oder prekärer Beschäftigung ersetzt werden“.
Generell muss über die Zukunft der sozialen Absicherung nachgedacht werden. Mit der Steuerreform wurde ein erster richtiger Schritt zur Entlastung des Faktors Arbeit gesetzt. Eine Verbreiterung der Abgabenstruktur kann aber unser Sozialsystem langfristig absichern und letztendlich mehr Beschäftigung schaffen.
OECD-Ökonom Förster: Wirtschaftswachstum lässt Geringverdiener zurück
Vom Wirtschaftswachstum profitieren hohe Einkommen überdurchschnittlich, während Geringverdiener zurückgelassen wurden. „Diese Entwicklung hat mehrfache negative Konsequenzen, nicht nur für die Betroffenen“, so Dr. Michael Förster, Ökonom und Chefanalyst in der Direktion für Beschäftigung, Arbeit und soziale Angelegenheiten in der OECD in Paris, in seinem Beitrag zur Sozialstaatsenquete. Durch eine schwache Einkommensentwicklung kommt es bei einkommensorientierten Sozialversicherungssystemen, allen voran in der Kranken- und Pensionsversicherung, zu Finanzierungsproblemen. Die hohe Einkommensungleichheit bremst darüber hinaus die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes: Steigt die Einkommensungleichheit um einen Prozentpunkt reduziert sich das Wirtschaftswachstum um 0,12 Prozentpunkte, stellt Förster fest.
Zwei Hauptgründe sind nach Ansicht des OECD-Experten für die steigenden Einkommensungleichheiten mitverantwortlich:
Jobs mit geringen Qualifikationsanforderungen sind gering bezahlt, während höher qualifizierte Jobs hohe Einkommenszuwächse bieten. Daneben sinkt die Zahl der Vollzeitjobs bzw. der Ganzjahresjobs, ebenfalls eine Entwicklung die mit einer steigenden Einkommenskluft verbunden ist.
Zum anderen senkten zahlreiche Reformmaßnahmen der Vergangenheit das Niveau von staatlichen Transfers. Auf der Ebene der privaten Haushalte kann die schwache Markteinkommensentwicklung immer weniger durch das Steuer-Transfersystem ausgeglichen werden.
Die OECD, so Förster abschließend, sehe mehrere Ansatzpunkte zur Reduktion der Einkommensungleichheiten. Sowohl für die Betroffenen als auch für Wirtschaft wäre es insgesamt positiv, wenn Frauen mehr und intensiver am Erwerbsleben teilnehmen, Maßnahmen zur Beschäftigungsförderung gesetzt, Aus- und Weiterbildung intensiviert und nicht zuletzt effiziente Umverteilungsmaßnahmen im Steuer-, Transfersystem unternommen würden.
Deutschland: Je jünger, desto geringer das Lebenseinkommen
Mit den Auswirkungen der Einkommensungleichheit auf das Lebenseinkommen beschäftigte sich Prof. Dr. Timm Bönke, Ökonom an der Freien Universität Berlin in seinem Referat. Sein Fazit auf Grund der Analyse der Erwerbsbiografien sozialversicherungspflichtig beschäftigter Arbeitnehmer in Deutschland: die Ungleichheit der Lebenserwerbseinkommen vom Jahrgang 1935 bis zum Jahrgang 1972 hat sich verdoppelt.
Hierfür sieht Bönke zwei zentrale Ursachen: „Neben einer zunehmenden Lohnspreizung zum Beispiel durch die sinkende Nachfrage nach unqualifizierter Beschäftigung sind es häufigere und längere Zeiten der Erwerbslosigkeit überwiegend bei Personen mit niedrigem Einkommen“.
Die dargestellte Entwicklung der Lebenseinkommen, so Bönke weiter, spiegelt eine tiefgreifende Veränderung der ökonomischen Struktur der Arbeitnehmerschaft wider. Während im oberen Teil der Verteilung derzeit noch stabile Beschäftigungsverhältnisse und Lohnwachstum vorherrschen, ist der untere Teil durch zunehmend prekäre Verhältnisse geprägt. Hier sinkt das Niveau der Löhne sowie des Lebenseinkommens und die Einkommensschwankungen und Arbeitsplatzunsicherheit nehmen zu.
Einkommensungleichheiten beseitigen, aber keine Fehlanreize setzen
Univ. Prof. Dr. Viktor Steiner, Leiter des Lehrstuhles für Empirische Wirtschaftsforschung und Wirtschaftspolitik, Freie Universität Berlin, stellt in seinem Referat fest, dass der österreichische Wohlfahrtsstaat „ein hohes Niveau der sozialen Sicherung durch die bedarfsorientierte Mindestsicherung sowie relativ hohe Pensionen bietet“. Dies reduziere die Einkommensungleichheit, könnte aber unter Umständen auch mit negativen Arbeitsanreizen insbesondere für Geringqualifizierte und mit Fehlanreizen zur Frühpensionierung verbunden sein. Es gelte daher, meint Steiner, bei Reformen im Sozialstaat mit dem Ziel der Beseitigung von Einkommensunterschieden mögliche Fehlanreize nicht aus den Augen zu verlieren. Derartige bestünden seiner Ansicht nach etwa im Bereich der geringfügigen Beschäftigung.
Die Sozialversicherung garantiert unabhängig von Alter, Einkommen, sozialer Herkunft und Bildung hochwertige Gesundheitsversorgung und eine sichere Pensionsvorsorge. Aktuell sind rund 8,5 Millionen Menschen anspruchsberechtigt (Versicherte und mitversicherte Angehörige).
Der Behandlungsanspruch aus der Krankenversicherung wird beim Mediziner durch das e-card-System angezeigt: Die e-card als Schlüsselkarte enthält keine medizinischen Daten, ermöglicht dem/der Arzt/ Ärztin aber die Überprüfung des Versicherungsstatus eines Patienten und die Nutzung weiterer Services. Der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger ist das organisatorische Dach über der solidarischen Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung Österreichs.
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